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Das Magazin von Physiobern

Lesedauer ca. 4 Min.

Optimismus: Dum spiro, spero – solange ich atme, hoffe ich

Essay

Optimismus: Dum spiro, spero – solange ich atme, hoffe ich

Warum das Glas halbvoll ist

Physioswiss hat seit 2020 eine stichhaltig formulierte und kommunizierte Strategie. Damit befinden wir uns de facto in einer berufspolitischen Pubertät. Wir sind neugierig - und ungeduldig. Wir wollen bei den Tarifverhandlungen Physiotherapie nicht die Luft der Perspektivenlosigkeit und des Wartens atmen. Wir lassen uns leicht von Neuem begeistern und sind zugleich schnell enttäuscht, wenn es auf Anhieb nicht so funktioniert, wie gedacht. Diese grübelnden Gedanken würden wie Liquor in alle Falten unseres Gehirns sickern. Die Physiotherapie muss jedoch Komplexität und egomanische Hypertrophie einzelner Verhandlungspartner:innen aushalten, um nicht stehen zu bleiben. Dies bedeutet kein pathetisch inszenierter Abschied von der Vernunft, sondern ist ein Zeichen des unnachgiebigen Muts und der unermüdlichen Entschlossenheit. Es ist deshalb keine fehlplatzierte Romantisierung, zu behaupten, dass das physiotherapeutische Immunsystem diesbezüglich stärker ist, als es viele Kostenträger:innen und Endzeitprophet:innen vielleicht wahrhaben möchten. Das berühmte Stokedale Paradox lehrt uns: «Verliere nie den Glauben, aber konfrontiere immer die Realität». Obwohl das Korsett des politischen Anstands und die volks- und betriebswirtschaftliche Notlage Atemnot bereiten, sind realistischer Optimismus und berechtigte Hoffnung betreffend einer Optimierung der Tarifstruktur Physiotherapie mehr denn je angesagt. Lasst uns Physiotherapeut:innen zugleich intellektuell skeptisch und menschlich optimistisch sein. Man kann das Thema auch in grösseren Zusammenhängen sehen, wie im berühmten Bonmot von Cicero: «Dum spiro, spero» – solange ich atme, hoffe ich.

 

Wer sich in der Berufspolitik engagiert, tut das oft aus einer inneren Überzeugung. Weil man an eine Sache glaubt. Weil man, Achtung, Pathos, die Welt der Physiotherapie besser machen will. Diese Behauptung widerspiegelt die menschliche Moral. Bei den Tarifverhandlungen geht es nicht nur um den «Kampf», sondern vor allem um die sorgfältige und nachhaltige Veränderung komplexer Systeme. Wenn dann die Pauschalen für Physiotherapie teilweise oder komplett verschwänden, würden wir nach Meinung der Autor:innen dieses Essays kaum unter Phantomschmerzen leiden. In dieser Phase der Entscheidungsfindung brauchen wir aber keinen vorauseilenden Pessimismus. Kritisieren war, ist und bleibt einfacher als kreieren. Und je öfter wir das tun, desto tiefer graben sich diese Denkspuren im Gehirn ein. Wir müssen deshalb stark, ausdauernd und resilient sein. Resilienz klingt zwar, laut Psychologen Dirk Gieselmann, wie ein Sodbrennen, beschreibt aber die zauberhafte menschliche Gabe, der zuweilen düsteren Welt der Physiotherapie, ein kleines helles Licht entgegenhalten zu können. Unsere Botschaft in diesem Stadium ist deshalb stets: das Glas ist halbvoll. Die simple Tatsache, dass wir optimistisch sind und die Umwelt positiv wahrnehmen, führt dazu, dass unsere Mundwinkel mit dieser Ansichtsweise aus der Horizontalen gelockt werden können. Zu dieser Behauptung gibt es zwar keine abschliessenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber immerhin poetische Betrachtungsweisen.

 

Die Welt der Gesundheitspolitik besteht aus Stakeholdern in unterschiedlichen Universen, mit unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Perspektiven. Diese verschiedenen Kulturen haben ein sehr gutes Immunsystem und lassen sich selten voneinander anstecken. Ganz allgemein glauben wir Autor:innen dieses Essays, dass man hier nichts «wegintellektualisieren» sollte.  Was man klar sagen kann: Alles ist kompliziert und relativ – es ist manchmal zum Verzweifeln. Bei den Tarifverhandlungen wird nicht nach der Idee gesucht, zu der alle Ja sagen, sondern nach der, zu der niemand Nein sagt. Wir Physiotherapeut:innen sollten unsere Augen deshalb nicht davor verschliessen, dass die Tarifverhandlungen scheitern können. Der Begriff «Scheitern» ist bei uns toxisch konnotiert. Wenn wir nicht aufpassen, hemmt er uns dabei, längst fällige Ziele zu verfolgen, weil unsere Furcht vor dem Scheitern so gross ist. 

 

«Dum spiro, spero» – solange ich atme, hoffe ich. Optimismus des Willens basiert – im Gegensatz zum Pessimismus des Verstandes - auf vegetative Zuneigung und feinstoffliche Sympathie. Alles gut und recht. Ein Teil der Rhetorik ist jedoch nicht Seelendehnungstraining auf hohem Niveau, sondern verbale Masturbation. Nehmen wir uns deshalb auch den Schlachtruf von Bühne Huber, jeweils ausgesprochen am Ende der monumentalen Konzerte von Patent Ochsner, zu Herzen: «U löht öich nüt la gfaue – Niä, niä, niä!» (für Nicht-Berner: «Und lasst euch nichts gefallen – Nie, nie, nie»!).