Essay
Acta et verba – Taten und Worte
«Gesundheitspolitik ist die Kraft des Beharrens, multipliziert mit der Kunst des Verschleppens» ist das mittlerweile legendäre Zitat von Gerhard Kocher. «Acta non verba» lautete eine klassische Lebensregel der alten Römer. «Liefere, nid lafere» wäre wahrscheinlich die zutreffendste berndeutsche Übersetzung.
Alles wunderschöne Alliterationen, aber, wenn man sie auf die moderne Verbands- und Berufspolitik bezieht, aus unserer Sicht nicht mehr ganz zutreffend. Um in der kantonalen oder nationalen Gesundheitspolitik überhaupt etwas erreichen zu können, braucht es enorm viel Kommunikation: in der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von politischen Vorstössen und zielorientierten Projekten - und zwar mit allen Beteiligten. An diversen Anlässen gilt es immer wieder, die Kostenträger, Politik, Medien und Bevölkerung zu überzeugen, dass für die Sicherstellung der zukünftigen Gesundheitsversorgung in der Schweiz eine adäquat abgegoltene Physiotherapie unentbehrlich ist. Und dass wir kein Kostenproblem, sondern ein Finanzierungsproblem haben. Viele Worte also, die zu Meinungsbildung, Konsensus und breiter Akzeptanz von innovativen und dringend notwendigen Entwicklungen unserer wunderschönen Profession führen.
Mit der Sistierung des drohenden Tarifeingriffs in der Physiotherapie haben wir für eine kurze Weile die Erleuchtung der Erleichterung erlangt. Zugleich fängt die eigentliche Arbeit jetzt erst recht an. U.a. ist Physioswiss seit einiger Zeit daran Kontakte und Allianzen mit ausgewählten Gesundheitspolitiker:innen weiter auszubauen. Konkret: per Ende März 2024 wurde die überparteiliche parlamentarische Gruppe «Physiotherapie» gegründet. Diese Gruppe hat ein politisch breit abgestütztes Co-Präsidium und die Mitgliederliste wird stetig ausgebaut. Das Co-Präsidium besteht aus Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP), Ständerat Marco Chiesa (SVP), Nationalrat Marc Jost (EVP), Nationalrat Benjamin Roduit (Mitte) und Ständerätin Franziska Roth (SP). Zweck dieser Gruppe ist u.a. die Förderung guter politischer Rahmenbedingungen zur Vertretung der Interessen für die Physiotherapie. Ein Novum für die Schweizer Berufspolitik, im Speziellen auch für die Physiotherapie!
Das bisherige Verhalten der Kostenträgerverbände glich einem Akt kollektiver Realitätsverweigerung. Mit dem Pathos der Kostenneutralität zu argumentieren ist nicht Ausdruck von Weisheit. Es zeugt eher von problematischer Gleichgültigkeit, der jede noch so verbitterte Sachbearbeiterin einer Krankenkasse applaudiert hätte. Wir sollten uns spätestens jetzt vom Märchen verabschieden, dass sich die Sicherstellung der medizinisch-therapeutischen Grundversorgung der Schweizer Bevölkerung und die Kostenverlagerung zu Lasten der ambulanten Physiotherapie wie Öl und Wasser nicht mischen lassen. Das Festklammern an dieser Binarität wäre unzeitgemäss und kurzsichtig. Leistungssteigerung und Kostenverlagerung sind nämlich keine Parallelwelten, sondern im Fall der ambulanten Physiotherapie verbundene Labyrinthe. Die Kostenträgerverbände und das BAG standen bezüglich des angedrohten Tarifeingriffs in der Physiotherapie im Jahr 2023 nicht unbedingt im Ruf, ein Hort wissenschaftlicher Akribie zu sein. Wir haben uns im letzten Jahr durch deren rhetorische Waffen argumentativ nicht in die Enge treiben lassen. Alle Verhandlungspartner müssen nun, in dieser neuen Phase der Tarifverhandlungen, ihre Testosteronschübe besser kanalisieren. Lasst uns dem indirekten Rat der Psychologin Robin Kowalski folgen: «Lästern ist einfach etwas was wir tun, wie atmen, obschon hoffentlich weniger oft». Politischer Wille und Vertrauen werden jetzt dringend benötigt. Gemeinsam können wir viel bewirken. Als ultimativer Grundsatz gilt: man soll Bestehendes nur durch etwas Besseres ersetzen. Damit gemeinsames Verhandeln und Handeln funktioniert, braucht es einen politischen Rahmen, der alle Beteiligten dazu bringt, ihren Beitrag zu leisten. Ein derartiger gesundheitspolitischer Rahmen fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss von Individuen und Verbänden geschaffen und verteidigt werden. Alle Verhandlungspartner sollten alte Denkmuster aufbrechen und die Synapsen neu verknüpfen. Wir unterschreiben das Votum von Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH: «Der Nutzen der medizinischen Versorgung ist wichtiger als die Sorgen um wachsende Kosten». Gemeinsam müssen wir uns für das Ergebnis – eine faire, kostendeckende Tarifstruktur – verantwortlich fühlen.
Philipp Loser, Redaktor des Tages-Anzeiger, formulierte es folgendermassen: «Was ist unser politischer Prozess anders als das ständige Aushalten unterschiedlicher Meinungen? Als der Umgang mit Widersprüchen und die mühselige Suche nach dem grösstmöglichen gemeinsamen Nenner – dem Kompromiss?» Ambivalenz ist der Kern unserer sich ständig verfeinernden Zivilisation. Der Verweis auf Unsicherheiten bei den Tarifverhandlungen ist keine argumentative Abkürzung, vielmehr wirft er die Frage auf, wie wir vernünftig mit den möglichen Szenarien umgehen sollten. Wir Verbandspolitiker:innen verbringen oft Stunden um Stunden in der Echokammer des eigenen Narrativs, statt sich bei wichtigen Themen Parallelinformationen von der Basis zu holen. Die Gesamtheit der Argumente und Gegenargumente bietet einen vertieften Blick in die Seelenkonstruktion der ganzen Berufsgruppe. Gerade auch deswegen hat die Geschäftsführung von Physioswiss eine neue Informationsplattform geschaffen. In Form der monatlichen Einweg-Information erhalten Funktionäre der Kantonal-/Regionalverbände neueste und umfassende Informationen und Hintergründe direkt aus erster Hand. Fragen sind vorgängig an die jeweiligen Präsident:innen zu richten. Diese beantworten die Fragen nach Möglichkeit direkt und entscheiden, welche allfälligen Fragen sie der Geschäftsstelle für die nächste Ausgabe des Informationsfensters weiterreichen. Geschätzte Kolleg:innen, Mitglieder von Physioswiss: nutzt diese Gelegenheit! Meldet euch mit euren Fragen und/oder Vorschlägen betreffend Tarifstruktur Physiotherapie 2.0 bei euren entsprechenden Delegierten und Vorstandsmitgliedern der Kantonal-/Regionalverbände. Mitdenken und Mitlenken. «Acta et verba»: Taten und Worte. In den Kantonal-/Regionalverbänden, im Zentralvorstand & auf der Geschäftsstelle von Physioswiss tun wir das eine ohne das andere zu lassen.
Mitgliederliste
Die Mitgliederliste der parlamentarischen Gruppe «Physiotherapie» wird fortlaufend erweitert und besteht Stand Mai 2024 aus Islam Alijaj (NR, SP), Christine Badertscher (NR, Grüne), Bettina Balmer (NR, FDP), Pirmin Bischof (SR, Mitte), Katja Christ (NR, GLP), Brigitte Crottaz (NR, SP), Joseph Dittli (SR, FDP), Maya Graf (SR, Grüne), Lars Guggisberg (NR, SVP), Patrick Hässig (NR, GLP), Tiana Angelina Moser (SR, GLP), Léonore Porchet (NR, Grüne), Farah Rumy (NR, SP), Flavia Wasserfallen (SR, SP), Hans Wicki (SR, FDP), Sarah Wyss (NR, SP) und Andrea Zyrd (NR, SP).